Ein „Bunter Abend für Revolutionäre“ belebt die Gymnasialaula

Schule kann Spaß machen. Spaß aber kostet Zeit und Arbeit. Wie motivierend Geschichts- und Musikunterricht ablaufen kann, demonstrierten die Schüler des Seminarfachs „Revolutionsetüden - historische Umbruchsituationen und ihr Niederschlag in Musikwerken“ am Gymnasium Nordhorn in der Aula. Aus den Facharbeitsergebnissen erwuchs in fächerübergreifender Zusammenarbeit von Geschichte (Martin Krol) und Musik (Heike Späthe) ein historisch-musikalischer Bilderbogen mit lockerer Reihung von Umbruchsituationen der letzten 400 Jahre, aufgezogen auf die Schnur einer verlotterten Gegenwart.

Dramaturgischer Grundeinfall: Historische Figuren aus der anonymen Masse, dem Baumaterial der Geschichte, treffen szenisch auf Menschen - Nordhorner - der Jetztzeit, die sich, arbeitslos herumlungernd, um eine Würstchenbude scharen. Die derzeitigen finanzpolitischen, sozialen und kriegerischen Krisen prägen ihren lethargischen Alltag. Die jeweiligen historischen Vertreter entstammen Krisen- und Kriegssituationen der Vergangenheit. Sie klären die unwissende Gegenwart auf.

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Das Zusammentreffen der einander fremden Epochen gebiert Erkenntnisse, Befremdlichkeiten und Missverständnisse, deren Humorpotential lernfähig macht. Kostümzitate aus der Geschichte, Leinwandprojektionen historischer Situationen, Gitarren- und Trommelklänge illustrieren den jeweiligen Schauplatz. Den Dialogen sind Lieder beigemischt, live im Chor vorgetragen oder solo oder aus der Konserve. Sie sind die Angelpunkte der historischen Situationen und ihrer Kommentierung. Eine Broschüre macht sie nachlesbar.
Da tritt beispielsweise eine vom Dreißigjährigen Krieg gebeutelte Bäuerin auf, das Kriegs- und Seuchenelend der Zeit verkörpernd, und tauscht an der Würstchenbude Milch gegen Brot. Oder eine französische Revolutionärin von 1789 beklagt, dass die bürgerliche Revolution ihre Kinder frisst. Nicht immer szenisch, aber im Lied stürmt der Abend durch die Gelenkstellen krisengeschüttelter Geschichte: Auswandererschicksal im 19. Jahrhundert, beginnende Nazi-Diktatur, Vietnamkrieg, Militärdiktaturen in Chile und Argentinien, unsere Gegenwart des Verlusts von Arbeit, Geldwert und Motivation.
An den Liedern ist vage eine Entwicklung ablesbar: Aus dem ohnmächtigen Vertrauen auf Gott wird die Selbstbesinnung auf die Kraft des Menschen, sei es mit der Waffe in der Hand oder sei es wenigstens in Form der Gedankenfreiheit. Und immer wieder der Rückfall in totalitäre Systeme, aber auch die Befreiung von ihnen.
Freiligraths „Auswanderer“, das Moorsoldatenlied, Brechts „Lied vom SA-Mann“, Victor Jaras Solidarisierungslied („Plegaria a un labrador“) bis hin zu „Dota und die Stadtpiraten“ waren die Kristallisationspunkte, in deren Brennglas Geschichte aufleuchtete. Dota mag für die Schlussbotschaft stehen: „Ich hab viel zu viel Ärger und viel zu wenig Wut“ (aus: „Uto-pia“). Wenn nicht wir unsere Geschichte in die Hand nehmen, wer dann? Verlässt die Revolution ihre Kinder? Krol und Späthe und ihre Schüler haben theatralisch gezeigt, wie Geschichtskenntnis und –erkenntnis nachhaltig werden können.

Bernd Durstewitz

Hinweis: Diese Besprechung ist zuerst in der GN erschienen. Wir danken für die Erlaubnis der Wiedergabe.  Die Ankündigung zu dieser Veranstaltung enthält weitere Informationen.