„Es war so intensiv“ – Schüler des Gymnasiums Nordhorn begegnen polnischen - KZ – Überlebenden

Am letzten Freitag, den 04. 07., konnten Schüler der Geschichtskurse der Klassen 11 und einige Schüler aus den Klassen 10 Geschichte in besonderer Weise erlernen – oder eher erfahren: Sechs polnische Überlebende verschiedener Konzentrationslager waren im Gymnasium zu Gast, um von ihren persönlichen Erlebnissen zu berichten. Betreut wird das Zeitzeugen-Projekt vom Maximilian-Kolbe-Werk, das KZ- und Ghettoüberlebende unterstützt. Die Gruppe hält sich z. Zt. im Ludwig-Windthorst-Haus in Lingen auf, durch dessen Vermittlung Frau Beckmannshagen, Fachobfrau für Geschichte, die polnischen Gäste an den Stadtring einladen konnte.


Vor drei Schülergruppen sprachen jeweils zwei Zeitzeugen von ihren persönlichen Schicksalen – in polnischer Sprache, übersetzt von begleitenden Dolmetschern bzw. von Schülern des Gymnasiums und der am Gymnasium z. Zt. tätigen polnischen Comenius-Assistentin. Hoch konzentriert und spürbar betroffen erfuhren die Schüler von sehr verschiedenen Biographien, deren Gemeinsamkeit darin besteht, Konzentrations- und Vernichtungslager überlebt zu haben und nicht jüdischer Herkunft zu sein. In den KZ´s waren sie auf Nummern reduziert, hier jedoch entstanden vor den Augen und Ohren der Schüler Lebensgeschichten, die eine Vergangenheit aufzeigten, die vielleicht nur original, im „O-Ton“, begriffen werden kann.

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Wieslawa Borysiewics, deren Familie als Unterstützer des Warschauer Aufstandes in KZ´s deportiert wurde und deren Vater im KZ umkam, berichtete vom Transport nach Auschwitz-Birkenau, von der Trennung von Mutter und Schwester und von medizinischen Versuchen, die sie überlebte. Nach der Überführung zum Trümmereinsatz nach Berlin und zur Zwangsarbeit nach Leipzig kehrte sie nach Kriegsende nach Polen zurück, zunächst ebenfalls in einen Kampf ums Überleben. Frau Borysiewics betonte, dass ihr später ein „normales“, glückliches Leben geschenkt wurde und dass sie sich nichts mehr wünsche, als dass ihre heutigen Zuhörer, im gleichen Alter wie sie damals,  nie einen solchen Hass und solches Leid erleben müssten.
Aloida Witaszek-Napierala wurde nach der Ermordung ihres im Widerstand tätigen Vaters und der Überführung der Mutter nach Auschwitz-Birkenau als Fünfjährige in das Kinder- und Jugendkonzentrationslager Litzmannstadt eingeliefert. Als sog. „Rassekind“ mit „arischen Merkmalen“ wurde sie über ein Lebensborn-Heim einem deutschen Ehepaar als vermeintliches deutsches Waisenkind zur Adoption übergeben. Die leibliche Mutter überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, suchte und fand schließlich mit Hilfe internationaler Suchdienste ihre verschleppten Kinder. „Alice“ erlebte dann den z. T. schwierigen und schmerzlichen Prozess der Rückführung in ihre Heimat und Ursprungsfamilie und wurde wieder zu „Aloida“. Die glückliche Fügung, dass sich später die leibliche Mutter und die „deutsche Mutti“ anfreundeten, offenbarte auch Wege der Versöhnung – hier aufgrund besonderer persönlicher Stärken zweier Frauen.
Ein weiterer Zeitzeuge berichtete nicht von eigenen Erinnerungen, denn er wurde im März 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück geboren, in das seine schwangere Mutter als Vergeltungsmaßnahme verschleppt worden war. Er schilderte vor allem die Lebenssituation der Mütter, Kinder und Säuglinge im Lager. Er überlebte als schwerkranker Säugling, weil er zu einer Gruppe nach Schweden überführter KZ-Insassen gehörte.
Andrej Korczak-Branecki, dessen Familie der polnischen Untergrundbewegung zugeordnet wurde und dessen beide ältere Brüder deshalb erschossen wurden, wurde nach dem Warschauer Aufstand im September 1942 in das KZ Dachau deportiert – dort Nr. 106016 -  und später in die Kz´s Buchenwald, Natzweiler, Flossenbürg und wieder Dachau. Er berichtete von den Brutalitäten sadistischer Lageraufseher, von den Bedingungen der Zwangsarbeit, von quälendem Hunger, aber auch von dem deutschen Vorarbeiter, dessen Söhne an der Ostfront gefallen waren und der in einem unbeobachteten Moment sein Butterbrot für ihn „vergaß“. Zwei „Todesmärsche“ zwischen den Konzentrationslagern überlebte er, die Straßengräben voller Blut der Erschossenen, die nicht weiter konnten, getragen vom Gedanken und Gebet, dass seine Mutter nicht noch einen Sohn verlieren dürfe.
Diese und die weiteren Lebensschicksale machten betroffen, aber nicht nur darum ging es den Zeitzeugen. „Guckt nicht so ernst“. „Fragt, was ihr wissen wollt.“ „Fragt uns, wir sind die Letzten“ lauteten die Aufforderungen und letzteren kamen die Schüler vielfach, interessiert und behutsam nach. Es interessierten sie nicht nur Einzelheiten über z. B. Lageralltag, dortige Umstände, sondern auch die Bewältigung des Erlebten, das Leben „danach“ im Nachkriegspolen, Traumatisierungen bis in die Gegenwart oder das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen. Auch mögliche Sorgen angesichts wachsender rechtspopulistischer und nationalistischer Agitation in Europa wurden thematisiert.
„Nie wieder solches Leid!“. „Nicht hassen!“ „Wachsamkeit gegenüber den kleinen Hitlers und Stalins!“ – so lauteten dann einige der Schlussbotschaften dieser beeindruckenden Persönlichkeiten an die jungen Zuhörer. Für diese Mission – bis ins hohe Alter – waren an diesem Vormittag alle Zuhörer dankbar. Die Ergriffenheit der Schüler mag auch als gespürte Verantwortung für ein kollektives Erinnern gedeutet werden, da wir nicht mehr lange auf Zeitzeugen werden zurückgreifen können. Dankbarkeit und Ergriffenheit auch sichtbar in einer kleinen Geste: Nachdem Herr Korczak-Branecki seinen Bericht beendet hatte, ging ein Schüler auf den alten Herrn zu und gab ihm mit einem „Danke“ die Hand, worauf dieser lächelnd die Hände des Schülers umfasste und mit einen „dziekuje“  antwortete.

Karin Beckmannshagen